Die Frau von Gleis 9


 Der Mann sieht auf die Uhr, wirft die Stirn in Falten. Von unserer Position aus können wir die Uhr nicht sehen, aber sagen wir einmal es sei viertel nach 11.
Viertel nach 11 ist eine gute Zeit, und der Mann sieht aus wie ein Mann, bei dem es gerade viertel nach 11 ist.
Er steht recht dicht am Bahnsteigrand, sieht aber nicht eben wie jemand aus, der sich unvorsichtig oder gar töricht verhalten würde.
Er steht an Gleis 13. Dieser Umstand ist ein wenig seltsam, denn man würde ihn - das stimmen sie mir doch zu? - nicht für einen von Gleis 13 halten.
Die Züge auf Gleis 13 sind unbequeme Züge... nein, Gleis 13 ist gar kein gutes Gleis für ihn. Sperren wir doch einfach Gleis 13, es ist sicher zum allgemeinen besten.
Die Durchsage über die Sperrung seines Gleises, dem damitigem Verbleib aller entsprechender Züge außerhalb des Bahnhofgebäudes und des ersatzlosen Ausfalls der Befahrung dieser Strecken, scheint dem Mann zu stören....
Wie schwer kann es schon sein, zu akzeptieren, das Gleis-13-Züge in diesem Bahnhof nicht erwünscht sind? ...selbst wenn er ein Gleis-13-Mensch gewesen sein sollte...

Er ist natürlich kein Mann, der den Bahnhof, dieser Banalität wegen - denn anders kann man den Ausfall dieser Züge nicht bewerten: banal ...er ist niemand, der deswegen den Bahnhof meiden würde.
Verwunderlich ist allerdings, das er so oft - stets freundlich und höflich, aber das macht es nicht minder lästig - kleine aber bestimmte Beschwerden, das Gleis 13 betreffend, einreicht.
Nachdem aber das einzig richtige geschieht, die Beschwerden nämlich unbeachtet bleiben, liegt es also an dem Mann nun endlich wieder klar zu kommen.
Von den vielen Bahnsteigen probiert der Mann also auch tatsächlich den ein oder anderen aus. Fährt ein, zwei Stationen in eine Richtung, und sodann, mit der selben Linie wieder in den Bahnhof zurück. Aber die Einfahrt in den Bahnhof mittels anderer Gleise scheint ihm nicht zuzusagen.
Wie schwer kann es denn sein, sich einmal, mit einem, auch nur einem einzigen Gleis zu arrangieren?!

Gleis 10: der Mann sieht auf die Uhr, wirft die Stirn in Falten. - So sehen Menschen aus, die Zweifel an der Stimmigkeit des Fahrplans haben.
Natürlich steht er da völlig falsch. Falsche Zeit, falscher Ort. Dabei ist es doch so einfach! ...stehen doch alle Fahrplanänderungen groß angeschlagen in der Haupthalle.
Er ist wirklich besser, der neue Fahrplan. Und ist es etwa mein Versäumnis, dass er sich dem neuen Fahrplan (über den er sich ja jeder Zeit informieren könnte) nicht anpasst?
Jetzt blickt er auf. Sieht mich auf Gleis 9. Er lächelt. Er will zu mir, durch die Unterführung, auf meinen Bahnsteig.
Aber die Unterführung ist gesperrt. Sagen wir bis gegen 12.
Der Aushang über die einstweilige Sperrung und die damit einhergehende Unerreichbarkeit des Gleises 9, welche momentan gegeben und welche voraussichtlich bis ungefähr gegen 12 andauernd, scheint den Mann zu verwirren. Er schaut auf seine Uhr: viertel nach 11.
Das ist eine vernünftige, eine angemessene Zeit ... das wird mir sicher jemand bestätigen können.
Aber der Mann versteht es nicht. Wie kann es immer noch... war er nicht inzwischen mehrerer Strecken gefahren und wie kann es dann.. immer noch?!
Er stellt sich dicht ans den Bahnsteigrand. Will einfach durch das Gleisbett zu mir laufen. Ich halte ihn noch einmal auf. Doch dann lässt er sich nicht mehr aufhalten, tritt über das erste Eisen...
Fahrplanänderung. Zug 13: Gleis 10, Zug 9: Gleis 9, Vorsicht bei der Einfahrt.
Der Mann erbleicht. Ruft noch etwas - wird nicht mehr gehört.

Als die Züge das Gleisbett zwischen beiden Bahnsteigen wieder freigeben, ist von dem Mann nichts mehr zu sehen.
Ich weiß nicht ob er es geschafft hat, bin dem nie nachgegangen.
Wenn ja, ist er wohl mit der 13 abgefahren und wird nicht wieder in den Bahnhof kommen ...die 13 hält hier nicht.
Schade. Ich hatte ihn gemocht - meinen Gleiszehn-, Elfuhrfünfzehn-Mann.




Stille Zeitenwallung


Das Wasser macht Kopfsprünge ans Land.
            Bricht sich was...
Wie unbelehrbare Kinder
            - lustig weiter.
Die Erwachsenen sehen das nicht.
            Stehen vielleicht schon zulange drin.
Glauben sie haben Recht wenn sie Wellen
            "zerschlagen" nennen.

...das die Wogen das Land nicht besitzen bleiben
            ist nur die halbe Wahrheit.
Was fühlst du unter den Füßen?
            - aber du Trägst ja Schuhe




Hauptbahnhof

Über mir spannt sich ein Bogenhimmel
Lichterbahnen.
Und eingepfercht in der Hallenweite
stehen Dranggestalten
geduckt, eingefroren, wartend -
auf den Impuls,
der die Gewalten schienwärts  presst.



Ziegelwerk und Nebeltage


Der Tag lag in einer trüben Suppe. Über Bahndämme ging ich. Weit.
Und da, auf hohen, alten Brücken, an Feldrändern und Wiesen, da habe ich etwas wieder gefunden.
War ich schon der warm, gewohnten Stadt entlaufen, trug es mich plötzlich hinaus, über die gewohnte Wahrnehmung hinweg.
Und aus der absurden Welt des Josef K. stieg etwas, aus dem Buch, hinein in meine Welt.
Die Stadt, welche im Nebel vor mir lag, war eine andere, da ich ein anderer war.
Meine Gedanken überschlugen sich, loteten die Grenzen der Horizonte aus, füllten die endlose Weite - und doch, schien der Platz nicht zu genügen.
Ich breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken.
Wie lang hatten mich die Worte eines anderen nicht mehr so beflügelt.
Meine Gedanken rannten - tausend Wege gleichzeitig.
Und Etwas in mir, suchte etwas aus dem Moment hin zu retten. Denn so plötzlich der Sturm auch kommt, so schweigt er auch wieder.
            ---


Altes Ziegelwerk



Aus der bröckelnden Stadt bin ich hinaus gegangen. Als hätte mich jemand oder etwas gerufen.
Jetzt stehe ich am Ziegelwerk. Niemand sonst steht hier, und nie stünd` sonst gar jemand hier... außer mir.
Ich ziehe die Jacke fest um mich. Es ist kalt. Vielleicht hätte ich nicht allein gehen sollen, aber wer hätte mich schon begleitet. Und sieht man nicht allein oft so viel mehr?
Meine Kleidung scheint mir nicht zu passen, denn die Kälte kriecht überall hinein.
...verweister Ort. Jede Betriebsamkeit ist hier gewichen. Alles liegt brach. Der Schornstein hat ausgebrannt.
Man könnte meinen der Ort sei zur Ruhe gekommen ... ist er nicht. Im Gegenteil.
Die Unruhe ist tief in den Grund gesickert. Das rumoren der Maschinen schwingt im Boden nach. Dunkler Nachhall.
Der Stillstand ist dem Ort nicht gut bekommen, braucht er doch rauchenden Schornsteine, ratternde Bänder, klirrende Stangen, fauchende Öfen.
Kurz sehe ich ein Monster - wie ein eingesperrtes Tier, kaum atmend könnend, sich immer und immer fort in die Ketten werfend.
Ich blinzle. Nun ist alles wieder still und leer.

Die verwaschene, graue Nebelsuppe ist dem Ort das rechte Leichentuch. Mehr und mehr fürchte ich, der dünne Boden könne durchbrechen, die Wut des Ortes entfesseln.
Eine Dummheit! Sollte man doch die verhohlene  Gewalt viel mehr fürchten.
... Mir ist als ob Arbeiter, zu gefäßlosen Seelen verfallen, durch die Anlage schleppen.
Ein Geheimnis hat dieser Ort. Man spürt es deutlich. Und, obgleich man es nie erfahren wird - ist es doch mit dem letzten Ofen verglommen - sieht man sich dennoch geduckt danach um.

Jetzt erst merke ich, das der Ort überschwemmt ist.
Gleich einer Seuche schwappt Lehm- und Rostwasser an den angeätzt, mürbe gewordenen Zaun. Unter dem Hügel, hinter dem Zaun, die Stadt. 
Deren Menschen sind schwachsinnig geworden. Zu viel Nebel. Trübe Luft.
Plötzlich überkommt es mich. Ein böser Verdacht. Eine Ahnung. Wo kommt der Nebel her?
Ich wusste es. Dann mach ich den Fehler einzuatmen. Konzentrierter als jeder Städter...
Mein Hirn wird Brei. Fließt mir aus den Ohren.
Zuletzt denke ich an Hügel, Stadt und Zaun.... Verderben und Niedergang. 
Die Abrechnung im Verzug.

Wohin ich auch Blicke... oder: Präludium novum


Ist dieser Hügel nicht dir gleich,
wo Hals wird Brust, die Haut so weich
Und dieser Anhöh`n stolzer Schwung,
wie deine Kurven schön und jung.

Ist diese Steigung nicht gelenkt,
gleich deinem Leib den Gras entstämmt
Dein Lachen wie das Herbstwindspiel
zu dem dein Kopf zum Rücken fiel

Und deine Haut, oh ist sie nicht
wie Bronze glänzt im Abendlicht
Und deiner Haare Farbe schon,
wie Nussholz golden, braune Tön`


Zurück finden...

Oh, wie lange habe ich nichts mehr fertig gebracht!
Sicher, Schule fesselte mich, schnürte mir die Kreativität ab... Ausgerechnet in der Phase in der es einer Neufindung bedurfte, da plötzlich die Unruhe hinfort war... aber letztlich war ich einfach auch nicht kontinuierlich.

Lyrik, mein teurer, lieber Freund, sei mir treuer als ich dir.

Ich muss also zurück zur Poesie finden...

Schreiben ist nicht der Versuch die Welt in Worte zu fassen, sondern der Versuch die Worte zu hören, die die Welt zu einem spricht, wenn man lernt zu schweigen.

Meine Welt spricht jetzt anders, zumindest meistens, denn ich bin nun zu zweit.
(Wobei die Welt zu weilen ganz ähnlich dem früheren anhört ...dennoch, ein wenig anders dennoch!)

Heute Abend habe ich den Ruf wieder gehört! Ich wusste plötzlich ganz deutlich:
Die Worte sind zurückgekehrt - endlich!  

Eine Weile hatte ich nicht geschwiegen, war zu lange nicht lauschen.
Dem gigantischen Lied der Welt.
Und dann, ja dann war mir die neue Melodie fremd. Ein neuer Takt, mitten in der vertrauten Symphonie.
Ich habe die neue Stimme nicht erkannt, doch jetzt habe ich ihrer gelauscht:
Und ich begreife, das ohne sie so so viel gefehlt hatte!

Willkommen neue Stimme!

Willkommen neuer Takt, habe Einzug in meine Gedichte, sei der Teil des Orchesters, der mein Lied schöner macht, der nicht alles umwirft, sondern komplettiert.